Das Faultier als Sinnbild gelassener Erziehung
„München (dk) – „Das Sein kommt in unserem Leben oft zu kurz“, findet die Erziehungswissenschaftlerin Anke Elisabeth Ballmann. BT-Redakteurin sprach mit ihr darüber, was eine gute Kindheit ausmacht.

© pr
Es scheint immer zu lächeln: Das Faultier strahlt Gelassenheit aus. Foto: Harry Collins/stock.adobe.com
Der Start ins Leben soll so gut sein, wie es nur geht: Das wünschen sich wohl alle Eltern. Damit ihren Kindern alle Wege offenstehen, beginnen viele schon früh, ihre Kinder zu fördern. Doch eines verlieren sie schnell aus den Augen: Der Druck kann immens groß sein – für Eltern und Kinder gleichermaßen.
Dr. Anke Elisabeth Dallmann, Erziehungswissenschaftlerin und Gründerin der Stiftung „Gewaltfreie Kindheit“ plädiert in ihrem Ratgeber „Das Faultierprinzip“ für mehr Gelassenheit in der Erziehung, für ein gesundes Mittelmaß und viel Freiraum, damit Kinder sich nach ihrem eigenen Tempo entwickeln können. Warum ausgerechnet das Faultier ein Vorbild sein kann, darüber sprach BT-Redakteurin Daniela Körner mit Anke Elisabeth Ballmann.
BT: Frau Dr. Ballmann, wie sind Sie auf die Figur des Faultiers gekommen?
Dr. Anke Elisabeth Ballmann: Das Faultier passt so gut, weil es aussieht, als würde es immer lächeln. Es eilt ihm der Ruf voraus, dass es faul sei. Das stimmt aber nicht. Das Faultier geht einfach nur sehr effektiv mit seiner Energie um. Das ist auch die Idee, die hinter meinem Buch steckt: dass wir Menschen viel effektiver – und intelligenter – mit unserer Energie umgehen.
„Möglichst viel Leben reinpacken, möglichst viel erleben“
BT: Das Lebenstempo ist ein großes Thema in Ihrem Buch. Was genau meinen Sie damit?
Ballmann: Viele Menschen – wenn auch nicht alle – rasen durchs Leben: Sie wollen möglichst viel ins Leben reinpacken, möglichst viel erleben – und oft verzetteln sie sich. Der Blick für die Kleinigkeiten geht uns verloren, und wenn wir das merken, machen wir Achtsamkeitsseminare. Aber das ist alles nicht nötig. Es ist eine Entscheidung, die ich treffe. Wenn ich walke, sehe ich nicht das Gänseblümchen am Wegesrand. Gehe ich spazieren, kann ich es gut sehen – und erlebe damit mehr Lebenstiefe.
BT: Wie schaffen Sie sich entschleunigende Momente?
Ballmann: Ich sitze oft einfach da und schaue aus dem Fenster, schaue dem Regen zu. Und ich lerne Klavier spielen. Ich bin da noch ganz am Anfang und merke schon: Es funktioniert nicht mit Geschwindigkeit. Ich lerne nur mit immer wiederkehrender Übung, mache nur ganz winzige Fortschritte, freue mich aber darüber unglaublich. Es blüht jetzt überall, und wir haben jetzt die Möglichkeit, unseren Blick zu schulen. Dafür brauchen wir aber keine Ausbildung. Wir müssen uns nicht die freie Zeit mit Kursen zupflastern – denn das bereitet auch wieder Stress.

Findet, dass sich die Menschen einiges vom Faultier abschauen können: Dr. Anke Elisabeth Ballmann. Foto: Hannelore Kirchner
BT: Sie kritisieren, dass die meisten Eltern das Gymnasium für ihr Kind anstreben.
Ballmann: Das ist ja erst einmal verständlich, dass Eltern das so wollen. Das Gymnasium ist einfach die Tür, die alle Möglichkeiten öffnet: Das Kind kann studieren, es kann eine Lehre machen. Natürlich wollen die Eltern das Beste für ihr Kind. Ich will Eltern gar nicht kritisieren; ich will nur aufzeigen, dass das für manche Kinder nicht der richtige Weg ist. In Deutschland ist leider der Erfolg ganz stark mit sozioökonomischem Status verbunden. Die Kritik, die ich habe, ist, dass die Hauptschule dadurch entwertet wird. Die Realschule ist gerade noch okay. Aber Kinder, die in der Hauptschule sind, sind oft die abgestellten Kinder. Darüber müssen wir nachdenken, ob wir das so wollen – dass wir die Schulschichtzugehörigkeit so zementieren.
BT: Was ist denn in Ihren Augen das Beste für Kinder?
Ballmann: Wenn man die Kinder ansieht und überlegt: Wo sind ihre eigentlichen Interessen? Wo hat ein Kind Talente? Dass man nicht versucht, das Kind in eine Form zu pressen, sondern schaut: Wo hat das Kind seine Fähigkeiten? Kinder wollen ihren Eltern gefallen und machen viel, damit sie ihren Eltern gefallen und von ihnen geliebt werden. Manchmal verlieren sie sich dabei selbst, weil sie sich so sehr darauf konzentrieren, was von ihnen erwartet wird. Ich glaube aber, dass Kinder, die ihren eigenen Weg gehen und dabei von ihren Eltern unterstützt werden, wirklich glückliche Kinder werden.
„Man kann die Schule getrost den Kindern überlassen“
BT: Es ist ja für Eltern nicht unbedingt leicht, das zu verwirklichen. Manchmal machen sich ja auch Eltern gegenseitig Druck, wenn sie zum Beispiel über Schule sprechen.
Ballmann: Man kann die Schule getrost den Kindern überlassen. Wenn die Kinder Unterstützung haben wollen, dann sollen sie sie auch bekommen. Falsch ist es aber, ihnen ihre Aufgaben abzunehmen. Kinder müssen ja lernen, sich um ihre Aufgaben zu kümmern und auch dafür Verantwortung zu übernehmen. Dazu gehört auch, dass sie scheitern – und lernen, mit diesem Scheitern umzugehen. Dann ist es wichtig, dass die Eltern für das Kind da sind, wenn es gescheitert ist. Die Kinder können keine Eltern brauchen, die noch schimpfen, wenn es schlechte Noten hat. Ich finde es wichtig, dass Noten nicht der Lebensmittelpunkt für die Kinder werden. Die Schule ist nicht das Leben für die Kinder, sondern nur ein Teil des Lebens. Die Kinder müssen auch noch Freizeit haben. Ich bin überzeugt, dass Eltern sich oft viel zu sehr in das Leben der Kinder einmischen, wenn die Kinder es nicht haben wollen. Sie als Mutter müssen ja gar nicht wissen, was Ihr Kind gerade in Mathe macht. Das ist doch gar nicht Ihr Fach!
Zu schauen, wie man durchkommt, ist eine Form von Intelligenz
BT: Und wenn das Kind doch schlechte Noten hat und Nachhilfe vehement ablehnt?
Ballmann: Dann ist das so. Es ist doch auch eine Form von Intelligenz, wenn sich Kinder überlegen, wie sie schlechte Noten ausgleichen können. Und wenn sie damit nicht durchkommen, dann kommen sie eben mal nicht durch. Ihnen passiert ja nichts Schlimmes. Eltern können da meiner Meinung nach entspannt sein. Sie dürfen ihren Kindern ruhig mehr zutrauen. Das sorgt sonst für so viel Spannung. Eltern zerreißen sich oft – und machen zu viel für ihre Kinder. Das ist dann nicht mehr unterstützend, sondern eher behindernd. Wenn Kindern jedes Steinchen aus dem Weg geräumt wird, werden sie nicht lernen, irgendwas standzuhalten.
BT: Was brauchen Kinder noch?
Ballmann: Kinder brauchen Zeit. Wenn sie merken, dass es sich lohnt, irgendwo dranzubleiben, dass sie den Erfolg sehen, dann lernen sie gerne – wenn man sie nicht pusht. Kinder wollen lernen, sie wollen groß werden. Die Angst davor, dass ein Kind faul sein könnte, ist unbegründet. Jedes Kind will laufen lernen, beim Klettern hoch hinaus, sprechen lernen.
Zu viel Förderung ist eher hinderlich
BT: Worin liegt Ihrer Meinung nach das Problem?
Ballmann: Ich glaube, dass Kinder durch zu viel Förderung überfordert sind. Und dadurch haben sie oft viel zu wenig Zeit zum Spielen – und zwar zum freien Spielen. Sie haben oft sogar schon in den Kinderkrippen zu wenig Zeit, zu spielen, weil zu viele Programme angeboten werden. Diese Programme werden auch von Eltern gefordert. Eltern haben oft Angst, dass ihr Kind den Anschluss verpasst – weil sie das von anderen Eltern hören. Ich würde mir wünschen, dass sich jede Familie den Weg aussuchen kann, den sie mit ihren Kindern gehen möchte. Und da wiederum ist das Faultier ein wichtiger Protagonist, weil es für diese Gelassenheit und eben die Entspannung steht. Mir wäre es wichtig, dass Eltern für sich und ihre Kinder mehr Gelassenheit finden und neben dem Stress auch wieder entstressende Phasen haben. Und auch Phasen, in denen sie einfach mal nichts tun. Denn das Sein kommt im Leben viel zu kurz.
Anke Elisabeth Ballmann: „Das Faultier-Prinzip: Wie Kinder in ihrem Lebenstempo gelassen und frei ihre Fähigkeiten entwickeln und die Welt für sich entdecken“, Goldegg-Verlag, 192 Seiten, 20 Euro.